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"Die Weltgemeinschaft versagt"

Frankfurter Rundschau veröffentlicht Beitrag von Frank Schwabe

16.09.2015

"Dreizehn Dollar und fünfzig Cent. Pro Kopf und Monat. Das ist das was ein syrischer Flüchtling im Libanon als Nahrungsmittelhilfe erhält. Die Summe ist zum dritten Mal gekürzt, reicht nicht aus um satt zu werden. Die Kinder müssen auf den Feldern arbeiten, damit sich die Familien ausreichend versorgen können. Manche gehen seit Jahren nicht zur Schule. Familien leiden aktuell und verlieren jede Zukunftsperspektive. In Jordanien, in der Türkei und im Nordirak sieht die Lage leider nicht sehr anders aus. Die Lebenssituation ist erbärmlich und die Welt versagt bei der Notwendigkeit der Bereitstellung ausreichender Hilfe.

Die intensive Debatte über die Flüchtlingspolitik und die daraus abgeleiteten notwendigen Maßnahmen in Deutschland ist gut und wir sind hier auf dem richtigen Weg. Das Engagement der Weltgemeinschaft für die syrischen Flüchtlinge vor Ort steht aber in keinem Verhältnis dazu. Deshalb müssen wir unseren Blick wieder stärker dem Konflikt in Syrien zuwenden und dringend die humanitäre Lage der Flüchtlinge in den syrischen Nachbarstaaten verbessern. Falls wir das nicht tun, wird die Zahl der Flüchtlinge eher zu als abnehmen. Die notwendigen Ressourcen sind in den Herkunftsregionen viel effektiver einzusetzen als in Deutschland und Europa.

Das UN Flüchtlingshilfswerk UNHCR veranschlagt als notwendige humanitäre Hilfe für alle sechzig Millionen Flüchtlinge weltweit eine Summe für etwa zwanzig Milliarden Dollar. Das ist eine Menge, aber weniger als der Verteidigungsetat Deutschlands. Für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge in der Herkunftsregion, in den Nachbarländern Libanon, Jordanien, Türkei und im Nordirak veranschlagt UNHCR gut acht Milliarden Dollar. Davon ist zur Zeit nicht mal ein Drittel finanziert. Es fehlen also etwa fünf Milliarden Dollar, die die Weltgemeinschaft umgehend zur Verfügung stellen muss.

Die Auswirkungen fehlender humanitärer Hilfe sind klar. Wir reden mittlerweile über zwölf Millionen syrische Flüchtlinge, davon befinden sich knapp fünf Millionen in den Nachbarländern. Viele dieser Menschen sitzen im wahrsten Sinne des Wortes auf gepackten Koffern. In der Bekaa-Ebene im Libanon leben die Menschen in provisorisch zusammengenagelten Unterkünften. Der Libanon verweigert den Syrern geordnete Flüchtlingscamps. Zehnjährige Kinder sind zum Teil noch nie zur Schule gegangen. Aus Sicht der Familien droht eine ganze Generation ohne Bildung. Das Trinkwasser ist schlecht, die Familien versinken im Müll, es droht ein bitterkalter Winter ohne entsprechenden Schutz. Kinder und Alte könnten erneut erfrieren.

Niemand kann genau sagen wann sich Familien zur Flucht nach Europa entscheiden. Niemand kann genau sagen wann sich eine Dynamik entwickelt, die Zehntausende oder Hunderttausende in kurzer Zeit dazu bringt, sich auf den Weg zu machen. Wer jedoch mit den Familien vor Ort gesprochen hat, dem ist glasklar, dass die Welt zur Zeit alles macht, um die Motivation zu erhöhen, dass sich Flüchtlinge in Richtung Europa in Bewegung setzen.

Wir streiten uns in Deutschland darüber, ob ein Taschengeld von 143 Euro bezahlt werden soll. Mit 30 Euro könnten wir die Ernährung eines syrischen Flüchtlings im Libanon in ausreichendem Maße sicherstellen. Deutschland leistet viel. Wir sind unter dem Hauptgebern der humanitären Hilfe und der Übergangshilfe in den syrischen Nachbarländern. Deutschland hat die humanitäre Hilfe auf eine halbe Milliarde Euro gesteigert. Im Zuge des "Flüchtlingspakets" legt Deutschland noch einmal 400 Millionen drauf. Das gibt uns die Chance für neue diplomatische Initiativen, um die skandalöse und unsinnige Unterfinanzierung der UN-Hilfsprogramme endlich zu beenden. Eine solche Außen-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik hat Auswirkungen auf die Innenpolitik wie kaum in der Geschichte unseres Landes. Und sie ist die bessere Alternative zu unsinnigen Dublinregelungen und einem hilflosen Aussetzen der europäischen Freizügigkeit durch neue Grenzkontrollen.

Die Völkerwanderung, von der einige jetzt leichtfertig reden, hat ganz sicher noch nicht eingesetzt. Sie droht dann, wenn wir langfristig Entwicklungshilfe immer noch als Almosen verstehen und Handelspolitik nur im Sinne der entwickelten Länder organisieren. Die Welt wächst weiter zusammen, Distanzen werden überwindbarer und Informationen sind in Echtzeit rund über den Globus bis in den hintersten Slum abrufbar. Wenn Menschen in anderen Ländern der Welt keine Perspektive haben, werden sie sich - nicht alle, aber viele - auf dem Weg machen. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir echte Teilhabe organisieren und eine faire Handels- und Rohstoffpolitik entwickeln.

Was wir zur Zeit erleben sind insbesondere zwei Fluchtbewegungen aus Südosteuropa und Syrien. So sehr uns die gestiegenen Zahlen überrascht haben, ist nicht klar wie lange die Zahlen auf diesem Niveau bleiben. Der Schlüssel in Südosteuropa liegt in einer ökonomischen und sozialen Perspektive, die nur über eine Beitrittsperspektive in die Europäische Union erreicht werden kann. Rund um Syrien geht es schlichtweg um die Bereitstellung ausreichender finanzieller Mittel, um das Ausmaß der Zuwanderung nach Europa abzufedern. Die Vereinten Nationen und die Hilfsorganisationen leisten eine hervorragende Arbeit. Wir sollten sie ausreichend mit Mitteln ausstatten und den Menschen in den Herkunftsregionen helfen."